Auch an Regentagen kann man Carpe diem befolgen.
(Foto: Alizée Vauquelin)
Vermutlich ist es die häufigste Tätowierung die ich gesehen
habe. „Carpe diem“ wird bei unter 40jährigen gerne auf der Haut zur Schau
gestellt, ohne dass der Tätowierte sich jemals erklären muss. Denn dass Carpe
diem „Nutze den Tag“ heißt, muss man selbst Leuten nicht erklären, die sich nie
mit Latein rumplagen mussten. Die deutsche Übersetzung ist jedoch vollkommen
daneben gegriffen. Denn „Nutze den Tag“ kann bedeuten, dass ich den heutigen
Tag benutze, um zum Beispiel wichtige Erledigungen zu machen. Arbeiten,
Rechnungen bezahlen, zum Zahnarzt gehen, bei Lidl einkaufen, das Klo putzen,
wenn ich all diese Dinge an einem Tag erledigt habe, kann ich abends beruhigt
schlafen gehen und mir sagen, dass ich den Tag gut GENUTZT habe. Somit ist
die Übersetzung falsch.
Richtiger lautet die Übersetzung „Genieße den Tag“.
Genieße jeden Tag so, als wäre es Dein letzter! Aber auch
dieser Spruch ist so abgelutscht, dass man dabei nur mit den Augen rollen kann.
Denn kaum jemand von uns ist in der Lage so zu leben. Die
meisten von uns besitzen keine finanzielle Freiheit und müssen einer Arbeit
nachgehen, die man weder als Traumberuf, noch als wahre Passion bezeichnen
kann. Carpe diem wird im Grunde genommen schon jedem versaut, der morgens
gezwungen ist, sich mithilfe eines Weckers aus dem Bett zu quälen. Wir sind alle
unserer Arbeit Untertan und somit können wir wochentags schonmal kein Carpe
diem ausleben. Am Samstag gehen wir dann Lebensmittel einkaufen. Ob man das als
„genießen“ bezeichnen kann wird vermutlich geschlechterbedingt unterschiedlich
empfunden. Bleibt uns also noch der Sonntag. Ausschlafen, frühstücken, sich
selbst zum Sonntagsfahrer machen und ins Grüne fahren, frei sein, all das sind
Dinge, die dem Carpe diem schon näher kommen und wenn der wahre deutsche
Spießbürger abends noch Tatort gucken muss, von mir aus!
Carpe diem hat in unserer Gesellschaft also an bestimmten
Tagen einfach geschlossen.
Und so lautet die korrekte Tätowierung: Carpe diem
(aber nur an Sonn- und Urlaubstagen).
Carmen (um 23 v. Chr.)
von Horaz
„...Ganz gleich, ob Jupiter dir noch weitere Winter
zugeteilt hat oder ob dieser jetzt,
der gerade das Tyrrhenische Meer an
widrige Klippen branden lässt, dein letzter ist,
sei nicht dumm, filtere den
Wein und verzichte auf jede weiter reichende Hoffnung!
Noch während wir hier
reden, ist uns bereits die missgünstige Zeit entflohen:
Genieße den Tag, und
vertraue möglichst wenig auf den folgenden!“
(Carpe diem, quam minimum credula postero.)
Und nachdem ich das wunderbare Carpe diem so sehr
runtergemacht habe, möchte ich noch etwas sagen. NATÜRLICH ist es möglich, so
gut es eben geht jeden Tag im HIER und JETZT zu leben. Im Auto die
Lieblingsmusik hören, leckeres Essen mit zur Arbeit zu nehmen, nicht an morgen
denken sondern ganz das hier und jetzt größtmöglich positiv durch äußere und
innere Umstände zu besetzen. Jeden Tag glücklich zu sein, ihn wirklich zu
genießen, das ist die wahre Kunst. Jeder Tag lebt eingebettet in den Monaten
und Jahreszeiten. Ein stark ausgeprägtes saisonales Leben ist ein Leben im Sinn
von Carpe diem.
Carpe diem ist auch Heile Welt und für meine weiblichen
Leser kann ich DIESEN BLOG (Dorfmädchenglück) vorschlagen, der Ihnen
Inspiration gibt, wie man es schaffen kann ganz im hier und jetzt zu leben, nämlich im ausNUTZEN der Jahreszeiten.
Denn wenn man die Jahreszeiten voll und ganz AUSNUTZT, kommt man der falschen
deutschen Übersetzung trotzdem ganz nah.
In diesem Sinne, signiere ich ganz so wie Nicole von Dorfmädchenglück (ohne Tätowierung, aber mit wahrem Carpe-diem-Lebensgefühl) mit:
„Macht es Euch gemütlich“