24. August 2013

Dorfleben in Brandenburg - ethnologische Beobachtungen (Glosse up for grabs)


Grenzen gibt es nur im Kopf. Blick vom Teufelsberg aus auf die Berliner Skyline mit Fernseh- und Funkturm.
(Foto: Anja Grabs)
Zu einem richtigen Dorfleben gehört die Teilnahme an Festen, Vereinssitzungen, Parteiversammlungen, öffentlichen Redaktionssitzungen und alle weiteren Möglichkeiten mit Freunden und Fremden zusammen zu kommen, um interessante Gespräche zu führen und den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen. Dabei ergeben sich ungeschriebene Gesetze, die es einzuhalten gibt:

Solche Treffen dauern immer drei Stunden, auch wenn nur zwei Stunden angegeben wurden. Kommt man etwas später zu einer Versammlung, die an einem Tisch in einem Restaurant stattfindet, klopft man zweimal auf den Tisch und verwendet... und das ist jetzt ganz wichtig...man verwendet die folgenden Worte, die man auf keinen Fall abändern darf und die es WORTWÖRTLICH auszusprechen gilt: „Ich mach’ mal so...“. Daraufhin allgemeines Gemurmel und per Antwort kommt ein Zurückklopfen der Teilnehmer. Dieses Verhalten entsteht aus der Verlegenheit nicht jedem Einzelnen die Hand schütteln zu wollen und geführte Gespräche damit zu unterbrechen. Handelt es sich um eine Ur-Ost-Kneipe, in der sich seit 1989 kaum etwas verändert hat und in der sich eine Stammkundschaft unter 20 Leuten befindet, kann es passieren, dass der hereinkommende Gast JEDEM in der Kneipe an JEDEM Tisch die Hand gibt, auch wenn er sein Gegenüber nicht kennt.

Durcheinander sprechen darf man bei Stammtischen immer und bei Sitzungen erst nach dem letzten Tagesordnungspunkt, der immer „Sonstiges“ lautet, am längsten dauert und die interessantesten Neuigkeiten beinhaltet. Möchte man die Frauenquote in seiner Gruppierung erhöhen, sollte man unbedingt auf das Wort "Stammtisch" verzichten. Das Image vom Stammtisch besteht aus einem verrauchten Hinterzimmer, an dem nur Männer sitzen. Das wirkt nicht einladend für Frauen. Besser sind Wörter wie Treffen, Runde, Café oder ähnliche. 

Sitzen Fremde am Tisch, die aus den alten Bundesländern kommen, werden sie sich zu 100 % als „Wessis“ outen, indem sie mindestens ein- bis dreimal im Nebensatz erzählen, dass sie aus dem „Westen“ kommen. Das mag jetzt subjektiv an meinem Alter liegen, aber meine unausgesprochenen Gedanken lauten daraufhin immer so: „Das interessiert keine Sau.“ Vor ein paar Monaten wurde sogar aus einem Kontext heraus, die Frage in die Runde gestellt: „Darf ich Euch mal bitten den Arm zu heben, wenn Ihr ursprünglich aus dem Osten kommt.“ In diesem Fall musste ich meine Gedanken sofort aussprechen, indem ich konterte: „Hallo? Welche Sau interessiert das? Das ist vollkommen irrelevant!“ Kein „Ossi“ am Tisch traute sich daraufhin seinen Arm zu heben. Heute hörte ich wieder so einen komischen Satz: „Jetzt im Westen...“ Jetzt? Jetzt also seit 24 Jahren? Verhaltensweisen von Ossis, wie FKK-Strände besuchen und ausschließlich Sekt der Marke Rotkäppchen kaufen, lege ich genauso wenig an den Tag, wie ein geringer Anteil der Wessis den folgenden Satz OHNE das Wort „den“ aussprechen: „In Osten fahr’ ich nicht!“ Ich fühle mich selber weder als Ossi noch als Wessi und wenn mich Ausländer oder Nicht-Berliner fragen, ob ich aus dem Osten oder Westen komme, antworte ich mit Norden. Wir versuchen immer die Menschen in Schubladen zu stecken, aber bei Ost und West klappt es nicht so richtig, weil die Zeit ganz einfach ABGELAUFEN ist. Unsere Herkunft sagt kaum etwas aus über unser heutiges HIER und JETZT. Insbesondere dann, wenn es sich um mittlerweile 24 Jahre handelt.

Die Herkunft wird bei solchen Treffen zusätzlich gerne mit dem Wort „zugezogen“ besprochen. Ob Jemand zugezogen ist, also nicht ursprünglich in dem Ort geboren und aufgewachsen ist, wird oft und gerne mit dem Wort „zugezogenen“ erwähnt. Daraus ergeben sich manchmal absurde Dialoge, wenn der „Zugezogene“ auf die Frage, seit wann er denn hier wohnt, so etwas antwortet wie: Seit 30 Jahren. Ob man nun Ureinwohner in dem Dorf ist oder gerade erst zugezogen ist, hat aber absolut nichts mit dem Willkommen sein zu tun. Es ist lediglich ein subjektives Empfinden, wann man sich im Ort heimisch fühlt. Noch nie habe ich eine Diskriminierung erlebt, in der ein Zugezogener benachteiligt wurde. Man hat beim Meldeamt 12 Wochen Zeit seinen Wohnort zu melden. Steht er im Ausweis, ist man einheimisch. Fertig! Will man Bürgermeister werden, muss man seit 6 Monaten im Ort wohnen.

Die wichtigste Information, die ich zu Versammlungen geben kann ist, dass man möglichst bis zum Schluss bleiben sollte. Wenn alles Formelle besprochen und das ein oder andere Gläschen getrunken wurde, wird es erst richtig persönlich und interessant. Die größten Erkenntnisse bei solchen Treffen ergeben sich immer in den letzten 30 Minuten.

Wenn Sie jetzt Blut geleckt haben, kommen Sie doch zu unserem nächsten „Café Kappstrom“. Ein öffentliches Redaktionstreffen der Zeitung Kappstrom, zu dem Sie herzlich eingeladen sind. Es findet statt am 18. September um 18 Uhr im Restaurant Athos, Eichwalder Str. 100/Strandweg 11, 15537 Gosen. Wir sind die, die immer so viel am Tisch lachen.

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